HT 2021: Theorien, Konzepte, Grundbegriffe: Historiographische Kategorien als Streitgeschichte bei Mannheim, Cantimori, Foucault und Koselleck

HT 2021: Theorien, Konzepte, Grundbegriffe: Historiographische Kategorien als Streitgeschichte bei Mannheim, Cantimori, Foucault und Koselleck

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Franziska Meifort, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und Grundbegriffen ist essentieller Bestandteil der modernen Geschichtswissenschaft. Großprojekte wie die „Geschichtlichen Grundbegriffe“, die Ideengeschichte der Cambridge School oder der starke Einfluss der Sozial- und Kulturwissenschaften haben die historische Forschung in Deutschland wesentlich beeinflusst und zu einer Erweiterung und verstärkten Reflexion der verwendeten Methoden beigetragen. Die Ideengeschichte – oftmals in Überschneidung mit Intellektuellengeschichte betrieben – hat in den letzten Jahren die Genese von Gedankenkonstrukten, Theoriekonjunkturen und Diskursen im 20. Jahrhundert untersucht und damit neue Zugänge zur Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und Begriffen eröffnet.1 Die Erkenntnis, dass die spezifische historische Situation, der Austausch mit anderen Denkerinnen und Denkern, aber auch die ganz persönlichen Lebensumstände und Erfahrungen von Intellektuellen ihre Denkwelt beeinflussen, hat dazu geführt, dass in der Forschung biographische Zugänge vermehrt eine Rolle spielen. So auch in der von Bodo Mrozek und Philipp Felsch (beide Berlin) organisierten Sektion, in der anhand von Beispielen aus Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz vier einflussreiche theoretische Konstrukte und ihre Entstehungsbedingungen vorgestellt und diskutiert wurden: das Konzept des „freischwebenden Intellektuellen“ bei Karl Mannheim, die Psychiatrietheorie Michel Foucaults, die historische Methode Delio Cantimoris sowie Reinhart Kosellecks Begriff der „Sattelzeit“.

Im ersten Vortrag setzte sich MONIKA WULZ (Luzern) mit dem von Karl Mannheim formulierten Konzept des „freischwebenden Intellektuellen“ auseinander, das bis heute in zahlreichen Arbeiten zur Intellektuellengeschichte und Intellektuellensoziologie aufgegriffen wird. Wulz zeigte auf, wie eng Mannheims „freischwebender Intellektueller“ mit der Debatte um die „Not der geistigen Arbeiter“ verbunden ist, die Mannheims Mentor Alfred Weber bereits im September 1922 bei der 50. Jubiläumstagung des Vereins für Socialpolitik angestoßen hatte. Für Weber sollten Schriftsteller, Künstler, Journalisten, höhere Beamte und Geistliche ihrer Tätigkeit unabhängig von ökonomischen Zwängen nachgehen können. Durch Hyperinflation und Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg sah Weber ebendiese intellektuelle Unabhängigkeit der Geistarbeiter bedroht und hoffte auf ein Wiedererstarken des sich durch Vermögen und Kapitaleinkünften finanzierenden „Rentenintellektuellentums“. Als Karl Mannheim sieben Jahre später den Begriff des „freischwebenden Intellektuellen“ prägte, war dies, so Wulz, ein Beitrag zur „Entökonomisierung“ des Konzepts. Mannheim sei es 1929 um die Rolle der Intellektuellen in der polarisierten gesellschaftlichen Situation gegangen, er habe sie als „sozial freischwebende Schicht“ verstanden, deren verbindendes soziologisches Band die Bildung gewesen sei. Mit ihrem Beitrag plädierte Wulz dafür, theoretische Konzepte nicht so sehr als Beschreibungskategorien zu verstehen, sondern sie vielmehr im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen zu betrachten, in denen sie entstanden sind.

Auf die historische Methode des italienischen Historikers Delio Cantimori (1904-1966) kam anschließend PHILIPP FELSCH (Berlin) zu sprechen. Er schilderte wie Cantimori mit seiner italienischen Ketzergeschichte der Frühen Neuzeit eine ganze Generation von Schülern – darunter Adriano Prosperi, Valerio Marchetti und Carlo Ginzburg prägte. Die gebrochene Biographie Cantimoris, der sich im Zeitalter des Extreme vom Faschisten zum Kommunisten wandelte, als der er in den 1930er-Jahren Carl Schmitt und in den 1950er-Jahren Karl Marx ins Italienische übersetzte, zeigt einmal mehr auf, wie nah Rechts- und Linksextremismus beieinanderliegen können: In den 1960er-Jahren bemerkte Cantimori rückblickend, er habe sich in einem Anfall „geistiger Verwirrung“ im intellektuellen Klima nach dem Ersten Weltkrieg „in der Revolution geirrt“. Anhand von persönlichen Aufzeichnungen aus dem Nachlass warf Felsch ein Licht auf den Prozess der „ideologischen Ernüchterung“ Cantimoris, die mit dem „Schicksalsjahr“ 1956 begonnen habe: Cantimori wandte sich von der Kommunistischen Partei ab und verglich seine Arbeit als Historiker mit der eines Handwerkers: politische und ideologische Voraussetzungen sollten für diesen wie jenen keine Rolle spielen. Hier zeige sich, so Felsch, dass Cantomoris Methode der Fluchtpunkt seiner ideologischen Ernüchterung sei.

MAGALY TORNAY (Bern) stellte in ihrem Vortrag Fotografien aus dem Jahr 1954 vor, als Michel Foucault gemeinsam mit dem befreundeten Ehepaar Georges und Jacqueline Verdeaux die Schweizer Psychiater Roland Kuhn und Ludwig Binswanger in der Klinik in Münsterlingen am Bodensee besuchte. Während sie gemeinsam zwei Übersetzungsprojekte ins Französische, nämlich Kuhns „Maskendeutungen im Rorschach’schen Versuch“ und Binswangers „Traum und Existenz“ diskutierten, fand zeitgleich ein Faschingsfest in der Klinik mit Umzug und Maskenball statt, das vom Ehepaar Verdeaux fotografisch und filmisch festgehalten wurde. Wie die Bilder zeigten, parodierten die Patientinnen und Patienten mit ihren Kostümen das Klinikleben; etwa indem sie in Tintenkleks-Kleidern des Rorschach-Versuchs oder als Psychopharmaka verkleidet auftraten. Tornay stellte diese Kostümierungen in einen Zusammenhang mit den Methoden und Ansätzen, die Foucault, das Ehepaar Verdeaux, Binswanger und Kuhn an diesem Tag anhand ihrer Übersetzungen diskutierten. Sie argumentierte, dass die Klinik in der Nachkriegszeit als „Theoriebeschleunigerin“ funktioniert habe: die praktischen Begegnungen, die im klinischen Kontext stattfanden, hätten eine ganze Generation von Theoretikerinnen und Theoretikern geprägt, so auch Michel Foucault. Interessant erschien hier vor allem das Spiel mit den Machtverhältnissen, dass den Patienten eine agency erlaubte, aber die vorherrschenden Machtverhältnisse nicht umkehrte – der Psychiater Kuhn behielt beim Maskenfest die Königskrone auf.

Einen neuen Blick auf einen vielzitierten Begriff, nämlich Reinhart Kosellecks „Sattelzeit“ warf BODO MROZEK (Berlin). Anhand von Dokumenten aus dem Koselleck-Nachlass in Marbach zeigte Mrozek, dass der Begriffs-Historiker Koselleck selbst mit dem von ihm geprägten Terminus „Sattelzeit“ unglücklich war. Der Begriff, der ihm spontan beim Reden eingefallen sei und den er für theoretisch schwach hielt, hatte als eingängige Metapher für die Epochenschwelle von etwa 1750 bis 1850 eine Eigendynamik entwickelt, die er nicht mehr einfangen konnte. Entgegen der gängigen Lesart der Metapher als Bergsattel, dessen Erreichen beim Wandern Erfahrungsraum und Erwartungshorizont mit einem überraschenden Ausblick in die Zukunft konfrontiert, stellte Mrozek die These auf, dass Koselleck bei der spontanen Begriffsbildung auch durch seine Begeisterung für Pferde und das Reiten und seine biographischen Erfahrungen in der Reiter-Hitlerjugend und als Soldat im Zweiten Weltkrieg inspiriert war. Währen Ulrich Raulff schon im „Jahrhundert der Pferde“ (2015) den Hinweis gab, dass die Metapher des Bergsattels eigentlich auf einen Pferdesattel zurückgehe, ging Mrozek noch einen Schritt weiter und argumentierte in Anlehnung an Wolfgang Schieder, mit der Sattelzeit sei eigentlich die – in NS-Publikationen und zeitgenössischem Liedgut glorifizierte – Zeit des Sattelns der Pferde gemeint; also eine „Chrono-Praktik“ des befohlenen, frühmorgendlichen Aufsattelns im Aufbruch und des abendlichen Absattelns nach Erreichen eines Ziels. Der Sattelzeit-Begriff wurzele in den letzten Ausläufern des Pferdezeitalters, genauer gesagt in der Reiterkultur des Nationalsozialismus. Mrozek schloss mit einem Plädoyer, den Begriff „Sattelzeit“ nicht mehr zu verwenden, begrifflich also ein für alle Mal „abzusatteln“.

In seinem Impuls zur Diskussion sprach SVEN REICHARDT (Konstanz) vor allem die Allgegenwärtigkeit und gleichzeitige Problematik von Metaphern in der Kulturtheorie an. Um der Bedeutung der Metaphorik des Sattelzeit-Begriffs auf die Spur zu kommen, könne man einerseits dem Entstehungskontext der Wortschöpfung folgen oder andererseits nach seinem analytischen Potenzial fragen. Solange jedoch noch keine bessere Metapher für die Schwellenzeit um 1800 gefunden sei, hielt Reichart es für verfrüht, „abzusatteln“. In Bezug auf den Vortrag von Monika Wulz fragte Reichardt, in welchem Verhältnis die Prekarität der Intellektuellen und die politische Radikalisierung in den 1920er-Jahren standen – eine Frage, die auch einen Gegenwartsbezug zu den heutigen 2020er-Jahren herstellte.

Der Impuls zur Diskussion konnte aus Zeitgründen von den Vortragenden nur kurz aufgegriffen werden; ein inhaltlicher Austausch mit dem digital zugeschalteten Publikum unterblieb ganz – ein Phänomen, das auch von vergangenen Historikertagen in Präsenz nicht unbekannt ist. Hier wäre grundsätzlich zu überlegen, ob die Sektionen in Zukunft weniger prall gefüllt sein sollten, um mehr Zeit zur Diskussion zu schaffen. Dennoch – diese Sektion war reich an Anregungen und zeigte vor allem eines: Wenn man Ideen-, Intellektuellen- oder Begriffsgeschichte betreibt, wird man nicht an der Auseinandersetzung mit der biographischen Prägung der handelnden Akteure und Akteurinnen vorbeikommen: seien es die Erfahrungen im Sattel, die Begegnungen mit den Maskengesichtern in der Psychiatrie, die ökonomische Unsicherheit in den 1920er-Jahren oder die politische (Um-)Orientierung im Zeitalter der Extreme. Sie alle beeinflussen das Denken und die Sprache und prägen so auch indirekt die Assoziationen und Gedankenbilder der Leserinnen und Leser.

Sektionsübersicht:

Bodo Mrozek / Philipp Felsch (Sektionsleitung)

Bodo Mrozek: Einführung zum Panel

Monika Wulz (Luzern): Freischwebende Intellektuelle? Karl Mannheim und die Frage nach den ökonomischen Grundlagen von Kopfarbeit im Kontext der Weimarer Republik (1920er/20. Jh.)

Philipp Felsch (Berlin): Häretiker im Weltbürgerkrieg. Delio Cantimoris historische Methode (1930er-60er / 16. Jh.)

Magaly Tornay (Bern): Vom Dasein zur Transversalität: Michel Foucault und die Psychiatrie (1960er-70er/16.-18. Jh.)

Bodo Mrozek: Der Krieg als Vater aller Begriffe? Reinhart Kosellecks Historik im Kontext seiner Erfahrung (1980er– 90er Jahre/18.–19. Jh.)

Sven Reichardt (Konstanz): Impuls zur Diskussion

Anmerkungen:
1 Vgl. Margarete Tiessen, Ideengeschichtliche Selbstverständigung. Sammelrezension zu: Salzborn, Samuel (Hrsg.): Handbuch Politische Ideengeschichte. Zugänge – Methoden – Strömungen. Stuttgart 2018, Raulet, Gérard; Llanque, Marcus (Hrsg.): Geschichte der politischen Ideengeschichte. Baden-Baden 2018, Bormuth, Matthias: Die Vielfalt geistiger Erfahrung. Überlegungen zur Ideengeschichte. Göttingen 2018, in: H-Soz-Kult, 03.09.2019, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28017 (02.12.2021); Daniel Morat, Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011, http://docupedia.de/zg/morat_intellektuellengeschichte_v1_de_2011 (02.12.2021); Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hrsg. u. m. einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried, Göttingen 2020.